Ich würde Dich in dieser Situation viel lieber persönlich besuchen, aber da das nicht möglich ist, schreibe ich Dir einen Brief.
Ich möchte sehr ehrlich zu Dir sein: Jeder Mensch auf der ganzen Welt wird irgendwann einmal sterben. Es ist deshalb von Vorteil, auf den Tod im Lichte letztendlicher Wahrheit zu schauen. Diese erscheint dem rationalen Verstand zwar merkwürdig und unlogisch, aber das ist nicht so schlimm. Die letztendliche Wahrheit transzendiert alles, den rationalen Verstand eingeschlossen. Wir müssen uns also eher auf unsere Intuition und unsere Weisheit verlassen. Aber Du weißt selbst, dass diese beiden Qualitäten in unserer Zeit nicht besonders hoch angesehen sind, weshalb sie in der Regel auch sehr schwach entwickelt bleiben.
So kommt es, dass wir uns selbst belügen, solange wir gesund sind – wir leben fast alle in der Leugnung des Todes. Sie entstammt dem unbewußten Glauben, dass der Tod allen anderen passiert, nur nicht uns selbst. Wenn wir aber die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit gestellt bekommen haben, kann unsere bedauerliche Unbewußtheit in diesem Bereich zu einem Ende kommen. Wer einer solchen Krankheit gegenüber steht, hat die Chance, der endgültigen Wahrheit zu begegnen und über die furchtbare Trance hinauszuwachsen, aus der die meisten Menschen niemals erwachen.
Vieles von dem, was ich Dir mitteilen werde, ist sehr merkwürdig, wenn man es innerhalb unserer kulturellen Begrenzungen betrachtet. Aber ich bitte Dich, so offen wie möglich zu bleiben und die gute Botschaft in Dein Herz zu nehmen.
Die erste merkwürdige Angelegenheit, die ich Dir mitteilen möchte, ist: Ich weiß, wohin Du gehen wirst, wenn Du stirbst, denn im Herbst 1972 bin ich selbst gestorben.
Es war ein bewölkter, aber dennoch schöner Tag. Ich erinnere mich noch genau, dass ungewöhnlich viele Vögel durch die Luft flogen. Ich war mit einer Gruppe von Menschen zusammen, und wir befanden uns kurz vor dem Ende eines einwöchigen buddhistischen Meditations-Retreats. Der Zeitplan für die Meditation war sehr fordernd, was in der buddhistischen Tradition häufig der Fall ist. Am späten Nachmittag des letzten Tages hatten wir eine 30-minütige Pause. Ich ging in einen leeren Raum und legte mich erschöpft auf den Boden. Dann schloß ich meine Augen und starb.
Es war tatsächlich so einfach. Es klingt unglaublich, aber der Vorgang dauerte nicht mehr als zwei oder drei Minuten. Zumindest in diesem Moment, war ich vollkommen geheilt. In dieser kurzen Zeit hatte ich das schönste Erlebnis meines Lebens und ich verstand, dass ein bewußter Tod das beste ist, das man in diesem Leben erreichen kann. Ich war ausser mir vor Freude, sprang auf und lief zu den anderen, um so vielen wie möglich davon zu erzählen.
Erst später wurde mir klar, dass es dennoch notwendig ist, unsere frühen emotionalen Wunden zu heilen, damit wir kein unnötiges Leiden mehr für andere oder uns selbst verursachen.
In diesem Brief möchte ich Dir so umfassend wie möglich alles Wesentliche berichten, was ich erkannt habe, als ich gestorben war. Zum Beispiel wurde mir unmittelbar klar, dass die fünf vergangenen Jahre meines Lebens, die ich in täglicher Depression und tiefer Angst vor dem Tod verbracht hatte, gleichzeitig ein großer Fehler und eine unbewußte Vorbereitung auf dieses Erlebnis gewesen war.
In den vielen Jahren zwischen meinem damaligen Tod und heute habe ich den Menschen immer und immer wieder gesagt, dass mein Tod das allerschönste Erlebnis meines ganzen Lebens war. An die Stelle der Angst war tiefe Rührung und Freude getreten, und auch dies sage ich den Menschen immer wieder: wir brauchen keine Angst vor dem Tod zu haben. Allerdings müssen wir eine gewisse Vorbereitung durchlaufen haben. Weiter unten werde ich dir einige Gedanken dazu mitteilen, wie eine solche Vorbereitung auf den Tod aussehen könnte.
Wenn ich im folgenden Gott schreibe, ist damit folgendes gemeint:
- Es gibt eine universelle Lebenskraft, die wir je nach Kultur Gott, Allah, Tao, Brahma oder irgendwie anders nennen.
- Diese Lebenskraft ist universell: sie ist überall gegenwärtig.
- Sie ist eine lebendige, schöpferische Kraft, die ursprüngliche Essenz all dessen, was sichtbar und unsichtbar ist.
- Und sie ist ein endloser Strom, der ausnahmslos alles durchdringt.
Es gibt einige wichtige Tatsachen über den Sterbeprozeß, die Du wissen solltest:
- Wenn wir sterben, läuft der sogenannte Lebensfilm ab, im Christentum traditionell Jüngstes Gericht genannt.
- Allerdings ist nicht Gott der Richter — Gott kann nicht der Richter sein, denn Gott ist universelle und ewige Vergebung.
- Derjenige, der uns im Jüngsten Gericht beurteilt, sind wir selbst!
Hier sind wir mit einem Paradox konfrontiert: Nicht Gott beurteilt uns, sondern wir selber. Gott hat uns schon immer alles vergeben; nun müssen wir lernen, dies selbst zu tun.
Es gibt nur einen einzigen Weg, uns selbst wirklich zu vergeben. Er besteht darin, allen anderen Menschen und Gott zu vergeben. Anders gesagt: Überprüfen wir, ob wir allen anderen Menschen und Gott vergeben; dann wissen wir, ob wir uns selbst vergeben haben.
Ein Teil des menschlichen Bewusstseins ist das sogenannte Zeugenbewusstsein. Man kann es auch den reinen, gedankenfreien inneren Beobachter nennen. Dieser Aspekt unseres Bewusstseins ist während des ganzen Lebens aktiv, selbst wenn wir es nicht bemerken. Er speichert automatisch sämtliche Eindrücke unseres Lebens – ohne Ausnahme. Wenn wir „sterben”, sehen wir alle diese Eindrücke wie in einem Spiegel oder einem Kinofilm. Die Ereignisse in diesem Lebensfilm werden vollständig wahrgenommen. Dabei erleben wir nicht nur die eigenen Gefühle, sondern auch die der anderen beteiligten Menschen. Es spielt keine Rolle, ob zu diesen Situationen eine bewusste Erinnerung vorhanden war oder nicht.
Ich möchte dir von einer weiteren Merkwürdigkeit, berichten, die ich im Jahre 1972 bei meinem bewusst erlebten Tod gelernt habe. Sie lautet: Himmel und Hölle sind ein und derselbe Ort!
Traditionell wird der Himmel als ein Raum des friedvollen und angenehmen Lichts beschrieben, während die Hölle uns als Ort des schmerzhaften Feuers geläufig ist. Wenn wir jedoch in einem Zustand offener und vollkommener Vergebung sterben, transformieren wir das Feuer der Hölle in das friedvolle Licht des Himmels. Der Himmel ist kein Ort, an dem Engel singen oder Trompete spielen. Im Himmel ist nur Gott oder, wie ich es gerne ausdrücke, die Gottessuppe. Wenn wir sterben, haben wir die Möglichkeit, uns in diese ewige Vollkommenheit hinein aufzulösen. Es ist daher sehr hilfreich, diese Auflösung in täglicher Praxis zu üben.
Die Praxis der Selbstauflösung ist nicht besonders kompliziert: Es geht darum, alles loszulassen. Dabei geht es insbesondere um die Haltung der Angst und die des Verlangens, genauer: jegliche Angst und jegliches Verlangen.
Im Buddhismus gibt es eine radikale Unterweisung zur Bedeutung des Loslassens. Sie lautet: es spielt keine Rolle, wie wir unser Leben gestalten; im Moment des Todes hingegen ist es notwendig, dass wir uns vollständig entspannen. Aber wenn wir Dinge in unserem Geist aufbewahrt haben, für die wir Schuld oder Scham empfinden, verhindern diese Gefühle das Loslassen so lange, bis Reue und Vergebung tief gefühlt werden. Wenn wir nun keinerlei Übung darin haben, uns zu entspannen, kann es sehr schwierig werden, dies im Moment des Todes zu tun.
Du könntest folgendes versuchen: Schliesse Deine Augen… Falls Du irgend etwas siehst, wenn Du die Augen geschlossen hältst, weisst Du, dass es ein Produkt Deines Geistes ist. Nun öffne die Augen wieder. Was ist mit den Dingen, die Du um Dich herum siehst? Und insbesondere: was ist mit diesen Formen, die wir unsere Körper nennen? All diese Formen werden ohne Ausnahme vom Gewahrsein selbst produziert. Damit hilft es sich dabei, sich seiner selbst bewusst zu werden! Ob wir es wissen oder nicht, der geheime Auftrag, in den wir alle mit einbezogen sind, ist die Ausdehnung des Bewußtseins über jegliche Begrenzung hinaus.
In Wirklichkeit stirbt niemals jemand. Denn in Wirklichkeit ist nie jemand geboren worden.
Unsere Körper wurden zwar geboren, und sie werden auch sterben; doch wir sind die Bewusstheit, und wir nutzen unsere Körper zum Lernen bestimmter Lektionen. Die Bewusstheit aber ist unsterblich. Sie manifestiert sich in uns als Bewusstsein und ist die ewige Grundlage von allem, was existiert. Wir werden also nie das ewige Leben erlangen – weil wir es gar nicht verlassen haben. Wir werden niemals etwas anderes sein als unsterblich!
Du kannst an der Ausdehnung des Bewußtseins teilhaben, indem Du Dich in jedem Moment vollkommen dem uneingeschränkten Erkennen der Schöpfung hingibst. Auf diese Weise zeigt sich Dir unsere unsterbliche Essenz, das Gewahrsein selbst. Es wurde nie geboren, es wird niemals sterben und es ist die Bestimmung all derer, die sich im hingeben.
was für ein Mysterium,
was für ein Abenteuer es ist,
Mensch zu sein und wach.
Mögen wir alle in Frieden und Liebe leben, und frei von jeglicher Angst sterben.
Greg