„Wer seine Vergangenheit nicht kennt, der ist verurteilt, sie zu wiederholen”, heißt es bei Sigmund Freud.
Wir möchten es noch genauer formulieren: Wer seiner Vergangenheit gegenüber keine Reue empfindet, verurteilt sich unbewusst selbst dazu, sie zu wiederholen.
Vergangenheitsbewältigung bedeutet unter anderem, sich heilend und nährend mit dem inneren Kind auseinanderzusetzen und sein Verhältnis zu Vater und Mutter grundlegend zu bereinigen, so dass wir wieder mit unseren Wurzeln verbunden sind. Es geht dabei nicht um Anschuldigungen oder Vorwürfe, sondern im Gegenteil um die Auflösung der trennenden Bewertungen. Schuld bringt uns nicht weiter – sie verleitet zu Passivität, Nichtstun und Depression. Reue hingegen führt zu Aktivität und heilendem Dienen. Sie reinigt und heilt die Wunden.
Wenn wir einem anderen Menschen Unrecht getan oder ihn verletzt haben, oder wenn wir auch nur denken, wir könnten es getan haben, dann taucht das Gefühl von Schuld auf. Die erste Reaktion auf dieses Gefühl ist in der Regel ein Rückzug aus dem Kontakt mit anderen. Diese Reaktion nennen wir Scham. Wenn wir uns erlauben, unsere Scham vollständig wahrzunehmen, entsteht Öffnung für Reue.
Eine andere Reaktion auf das Gefühl von Schuld ist Aggressivität. Sie entsteht aus der Weigerung, dem eigentlichen Schuldgefühl zu begegnen, und versucht die Verantwortung zu verschieben. Mit dieser Art von Kommunikation versuchen wir, im Gegenüber das eigene, abgewehrte Gefühl zu duplizieren. Der andere soll auf diese Weise verstehen, wie sich die Schuld anfühlt, er soll folglich etwas erkennen, das wir von uns selbst noch nicht erkannt und verstanden haben. In dieser Form der Projektion gibt es wenig Raum für eine Auflösung, es sei denn, der Angegriffene ruht so sehr in sich, dass er den Zorn restlos und in vollkommener Offenheit empfangen kann. Ansonsten bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Ausbruch seiner eigenen Aggressivität wahrzunehmen und deren Ursprung zu erforschen.
Scham und Schuld bilden einen Teufelskreis. Wenn wir uns aufgrund von Schuldgefühlen in die Scham zurückziehen, verlieren wir den Kontakt zu uns selbst und zu anderen. Dieser Mangel an Kontakt verursacht weiteres unnötiges Leid, für das wir uns dann wiederum schuldig fühlen. Dieser Kreislauf kann weitgehend unbewusst ablaufen und unser Leben steuern und zerstören.
Sterbende Menschen befinden sich häufig in diesem selbstzerstörerischen Zyklus, allein aufgrund der Tatsache, dass sie sterben. Sie denken an die Schwierigkeiten, die sie ihren Angehörigen durch ihr Sterben bereiten, oder sie machen sich Sorgen über das, was mit ihrer Familie geschieht, wenn sie gestorben sein werden.
In dieser Sorge spiegelt sich eine tiefere Ebene: die Angst, seine Angelegenheiten in diesem Leben nicht ausreichend geordnet zu haben, letztendlich also versagt zu haben. Das Sterben ist jedoch ein Teil unserer körperlichen Natur. Der Zeitpunkt des Sterbens überrascht fast jeden Menschen unangenehm, und wir entdecken plötzlich unerledigte Angelegenheiten in unserem Leben, die wir jetzt endgültig loslassen müssen.
Tiefe Vergebung kann in seltenen Fällen innerhalb eines einzigen Augenblicks erfolgen. Gott ist universelle und ewige Vergebung, und so ist zum Zeitpunkt des Todes ein solcher mentaler und emotionaler Zustand möglich, in dem sich ein klarer heller Spiegel mit dem großen hellen Spiegel vereint, der die Quelle von allem ist. Da aber diese seltenen Umstände im Leben der meisten von uns mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auftreten werden, ist es eine weise Entscheidung, eine permanente Praxis der Reue und Vergebung zu kultivieren – insbesondere in den Momenten, in denen es unmöglich erscheint…
Der Weg, der aus dem Teufelskreis von Schuld und Scham herausführt, ist bewusste Reue. Da wir für all unsere Handlungen die Konsequenzen zu tragen haben, liegt die Notwendigkeit der Reue auf der Hand. Ein Leben in tiefer und gesunder Reue erlaubt es, sich Schicht um Schicht von persönlicher und kollektiver Scham und Schuld zu befreien. Wir nehmen damit eine intensive und bewusste Verbindung zu unserem grundlegenden Gutsein wieder auf. Unsere Seele überhäuft uns mit Glücksgefühl, mit einer unablässig gegenwärtigen Gelassenheit und der Fähigkeit zu schöpferischem Umgang mit unseren Lebensproblemen.
Im Prozess der Reue stellt die Wahrnehmung von Schuld- und Schamgefühlen, wie sie hier beschrieben wurde, die erste von mehreren Stufen dar. Aus ihr erfolgt die Umkehr, an die sich Wiedergutmachung und Versöhnung anschliessen.
Umkehr
Wenn wir uns darüber bewusst werden, dass wir anderen Unrecht getan und geschadet oder dass wir sie in einer unnötigen Art und Weise verletzt haben, dann löst diese Erkenntnis Schuld und Scham aus. Scham und Schuld werden als Schmerz empfunden, dem wir normalerweise durch Rechtfertigungen und Vorwürfe zu entkommen versuchen. Dabei ist dieser Schmerz sehr wertvoll, denn er bewegt uns zur Umkehr, wenn wir ihm nicht ausweichen.
Was in der Bibel häufig als Umkehr übersetzt wird, heißt im Griechischen Metanoia. Anders jedoch als die äußerlichen Bußpraktiken des Alten Testaments und vieler Büßersekten des Mittelalters, zielt die Metanoia auf eine innere Umkehr. Sowohl bei Johannes dem Täufer als auch bei Jesus gilt die Umkehr als eigentliche Voraussetzung für die Erlangung des Reiches Gottes. Metanoia bedeutet eine Transformation im Bewusstsein. Dabei wenden wir uns vom oberflächlichen Leben der Unreife ab und sind bereit, unsere Unempfindlichkeit gegenüber Verletzungen und Ungerechtigkeiten aufzugeben und zu einem tieferen Verständnis unserer selbst umzukehren. Aus diesem tieferen Verständnis ergibt sich dann ein weiterer Schritt.
Wiedergutmachung
Wenn wir uns wirklich auf den Prozess der Reue einlassen wollen, müssen wir denjenigen, den wir verletzt haben, idealerweise fragen, wie wir unsere Tat wiedergutmachen können. Die Entscheidung, ob der andere unsere Reue oder die angebotene Wiedergutmachung annimmt, liegt allerdings nicht bei uns. Wir können in diesem Bereich keine Regeln oder Gesetze aufstellen. Der Prozess der Wiedergutmachung kann langwierig, kompliziert und manchmal aussichtslos sein. Das entbindet uns jedoch nicht davon, unser Möglichstes zu tun.
Versöhnung
Meist wollen wir sofort mit der Versöhnung beginnen, ohne den Schmerz des vorausgehenden Prozesses erfahren zu haben. Versöhnung wird damit zur Illusion. Schmerz, Schuld, Scham und schliesslich Reue umfassend fühlend wahrzunehmen, sind die entscheidenden Schritte; erst dann wird eine grundlegende Versöhnung möglich. Tiefe Reue ist eine der höchsten Segnungen in unserem Erdendasein. Sie ist das Tor zur Göttlichkeit. Authentische Versöhnung auf Erden bedeutet Vereinigung mit dem Göttlichen. In den Worten der österreichischen Autorin Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach (1830-1916):
„Was ist Reue?
Eine große Freude darüber, dass wir sind, wie wir sind.”
Die tägliche Übung der Reue – man könnte sagen: ein Alltag in gelebter Reue – verwandelt Scham und Schuld in Befreiung. Wir beabsichtigen also nicht, Scham und Schuld zu unterdrücken, sondern versuchen im Gegenteil, uns diese Gefühle so bewusst wie möglich zu machen, damit sie sich in eine andauernde Erinnerung verwandeln.
Diese Er-Innerung ist das geheime Herz aller Religionen. Wir müssen uns an den Inhalt unseres Lebens erinnern, an alles, was geschehen ist – positiv und negativ. Wir müssen uns an die Dinge erinnern, die in unserer Familie und in unserer Gesellschaft geschehen sind, um unnötiges Leiden nicht zu wiederholen. Im fühlenden Gewahrsein aller Urteile, die wir jemals gefällt haben über das Leben im allgemeinen, über andere Menschen und unsere eigenen Handlungen im besonderen, löst sich das in die geglaubte Schuld verstrickte Ich allmählich in das zugrundeliegende Sein auf.
Was auch immer uns in der Vergangenheit angetan wurde, kann niemals die immer gegenwärtige Vollkommenheit unseres unsterblichen Herzens verletzen. Dies ist die tiefste Ebene von Vergebung, die wir erreichen können. Sie ist von solcher Reife, dass alles verschwindet und sich in Ewigkeit auflöst.
Die tägliche Praxis gesunder Reue, wie sie hier beschrieben ist, wird hoffentlich der spirituelle Weg des 21. Jahrhunderts.