Zeugenbewusstsein

Das eigene grundlegende Gutsein – wie auch das anderer Menschen – ist nicht ohne weiteres erkennbar, denn es wird von zahlreichen Schichten der Verurteilung und Bewertung verdeckt. Der im vorangehenden Kapitel beschriebene Weg der Reue ist ein notwendiger Reinigungsprozess. Er führt dazu, dass wir das ursprüngliche Gute mehr und mehr wahrnehmen. „Gut” ist dabei nicht als Pol zu verstehen, welchem auf der anderen Seite das Böse gegenüber steht. Es beschreibt vielmehr einen Zustand der vollkommenen Zustimmung zu dem, was gerade erscheint.

Allerdings setzt die Wahrnehmung des grundlegenden Gutseins einen urteilsfreien Geist voraus. Es gibt eine solche urteilsfreie Instanz im wahrnehmenden Geist; wir bezeichnen sie als Zeugenbewusstsein. Dieses ist, wie in der Grafik dargestellt wird, die Stufe, welche sich aus der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstreflektion entwickelt. Das Zeugenbewusstsein überwindet letztendlich die Trennung des Menschen von der Menschlichkeit.

Das Zeugenbewusstsein wird auch als Stiller Zeuge oder Urteilsloser Beobachter bezeichnet. Jeder Mensch besitzt es, und auch wenn wir uns seiner zumeist nicht bewusst sind, ist es dennoch die ganze Zeit aktiv. Wir sollten uns des Zeugenbewusstseins so oft wie möglich gewahr werden, denn es wird uns zu unserer Essenz führen: zum reinen Bewusstsein selbst.

„Dieses durchgängige oder konstante Bewusstsein während aller Zustände – Wachen, Träumen und Schlafen – tritt oft nach vielen Jahren der Meditationspraxis auf; in meinem Fall waren es 25 Jahre. Dieser Zustand ist ganz einfach zu erkennen: Man ist im Wachzustand bewusst, und wenn man dann einschläft und Träume einsetzen, bleibt man sich dieses Träumens bewusst. (…)

Beim Bewusstsein des beständigen Bezeugens dagegen besteht kein Wunsch, irgend etwas zu verändern, das im Bewusstsein auftaucht; man ist einfach und unschuldig Zeuge. Es ist ein wunschloses Gewahren, ein spiegelähnliches Gewahren, das alles, was sich zeigt, gleichermaßen und unparteiisch wiedergibt. Man bleibt also im Traumzustand bewusst, ist dessen Zeuge und verändert nichts daran (auch wenn man dies könnte, wenn man wollte; meist will man dies aber nicht).” 1

Sich in der Wahrnehmung des Zeugenbewusstseins zu üben, ist so einfach, dass es anfangs schwierig erscheint. Es bleibt dennoch eine der wichtigsten Übungen. Denn sobald wir versäumen, uns bewusst selbst wahrzunehmen, wird das Ego aktiv. Ein guter Vergleich ist der Spiegel: dieser ist bereit, alles zu reflektieren, was vor ihm erscheint, ohne die Dinge, die er widerspiegelt, zu beurteilen. Ein Spiegel ist vollkommen offen für alles, was in ihm erscheinen soll, und er versucht nicht, die Dinge festzuhalten, die er reflektiert. Wir alle haben einen solchen Spiegel in uns – das Zeugenbewusstsein.

Der Spiegel als Metapher für das Zeugenbewusstsein

Der Spiegel ist eine geeignete Metapher für das Zeugenbewusstsein, denn:

  • Ein Spiegel leistet keinerlei Widerstand gegen das, was in ihm reflektiert wird.
  • Ein Spiegel hält nicht an den Bildern fest, die sich in ihm zeigen.
  • Ein Spiegel urteilt über keines dieser Bilder.
  • Ein Spiegel sucht sich keine Bilder, um sich selbst zu füllen.
  • Ein Spiegel kehrt sofort zu seiner ureigenen Leerheit zurück, sobald ein Bild aus ihm verschwindet.
  • Ein Spiegel kann von Staub bedeckt sein, ebenso wie das Zeugenbewusstsein durch die Gedanken verdunkelt wird.
  • Ein Spiegel hat keine Erwartungen und kennt keine Enttäuschungen.

Der Spiegel ist keine angemessene Metapher für das Zeugenbewusstsein, denn:

  • Ein gläserner Spiegel kann leicht zerstört werden – das Bewusstsein dagegen ist unzerstörbar.
  • Ein Spiegel ist kalt und hart, während das Zeugenbewusstsein das Wahrnehmen sämtlicher Gegebenheiten aus einer Perspektive vollkommener, mitfühlender Liebe ist.
  • Ein Spiegel ist nicht lebendig – das Bewusstsein aber ist die Quelle allen Lebens und gleichzeitig aller nicht lebendigen Gegenstände.
  • Ein zerbrochener Spiegel kann Verletzungen verursachen, aber Bewusstsein ist niemals eine Gefahr für sich selbst.
  • Ein Spiegel kann sich an nichts erinnern – dagegen behält Zeugenbewusstsein alle Ereignisse in Erinnerung. Es ist das perfekte Gedächtnis.

Eine volkstümliche deutsche Figur, die uns an das Zeugenbewusstsein erinnert, ist Till Eulenspiegel. Niemand war davor gefeit, sich von ihm den Spiegel der Selbsterkenntnis vorsetzen zu lassen. Er spottete über selbstzufriedene Bürger ebenso wie über das duldsame und abergläubische Volk. Dabei machte er weder vor dem arroganten, bestechlichen Adel noch vor dem verweltlichten Klerus halt. Mit seiner unnachahmlichen Art, die Menschen direkt bei ihren Worten und Taten zu nehmen, war er bereits zu Lebzeiten eine Legende.

Für die Menschen seiner Zeit stellte er eine ähnlich unbeirrbare Spiegelinstanz dar, wie sie das Zeugenbewusstsein im Augenblick des Todes ist. Er war ein Spiegel, der nicht schmeichelte. Auf seinem Grabstein steht geschrieben:

„merket wohl und denkt daran,
was ich gewesen bin auf Erden,
alle, die hier vorüber geh’n,
müssen mir gleich werden.”


  1. Ken Wilber: Einfach „Das” – Tagebuch eines ereignisreichen Jahres; Frankfurt am Main 2001 ↩︎