Mit dem Tod umzugehen, fällt uns schwer. Dies liegt an der fixierten Einstellung, die wir über ihn haben. Wir glauben, der Tod würde uns alles nehmen, was den Wert des Lebens auszumachen scheint.
Der Indologe Heinrich Zimmer schreibt über die Transzendenz des Todes, wie sie in den indogermanischen Mythen dargestellt wird:
„Tod, Auslöschung: dies ist eine jener begrenzten und begrenzenden Grundauffassungen, die, unserm Bewusstsein angehörend, die Grundlage unserer Ich-Welt bilden und uns für den Aufbau unserer Persönlichkeit die Motivation liefern. Persönlichkeit, Bewusstsein und Ich-Welt entstehen und wachsen in Zeit und Raum; sie sind der Vernichtung ausgesetzt und fürchten daher mit Recht den Tod. Aber wenn wir annehmen, das was sie sind und umfassen, stelle die Ganzheit unseres Daseins dar, sind wir im Irrtum. Das Ich-Bewusstsein und seine Ziele sind nur eine Phase, nur ein Ausdruck, eine Widerspiegelung oder Manifestation der Lebensenergie im Gesamt des Einzelnen.” 1
In den Mythen wird auf einen Umstand hingewiesen, den der deutsche Mystiker Meister Eckhart im 14. Jahrhundert darstellen wollte, indem er dem mittelhochdeutschen Wort gelazen eine neue Deutung gab. Bedeutete es bis dahin niedergelassen, also an einem bestimmten Ort zu wohnen und Besitz zu haben, so beschreibt das Wort Gelazenheit bei Meister Eckhart einen Zustand, in dem weltliche Dinge, Hab und Gut, gesellschaftliche Anerkennung und Genüsse losgela_ss_en werden. Er prägte den Ausdruck: „Laß Dich!”, womit er darauf hindeutete, dass jemand, der sich von seiner Persönlichkeit und seinem eigenen Wollen und Tun löst, der Einheit mit dem Göttlichen näher kommt.
„Die Leute sagen oft zu mir:
‚Bittet für mich!’
Dann denke ich:
‚Warum geht ihr aus?
Warum bleibt ihr nicht in euch selbst
Und greift in euer eigenes Gut?
Ihr tragt doch alle die Wahrheit
Wesenhaft in euch.’”
Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart), 1260-1327
Zur Gelassenheit gelangt man also nicht, indem man andere für sich beten lässt. Man wendet sich vielmehr nach innen, um in sein eigenes Gut zu greifen, was nichts anderes bedeutet, als sich der eigenen innewohnenden Vollkommenheit zu erinnern. In der buddhistischen Lehre wird häufig vom „grundlegenden Gutsein” gesprochen. Wer in sein eigenes Gut greift, wer sich also nach innen wendet und die Ich-Welt der Persönlichkeit zurücklässt, wird das grundlegende Gutsein entdecken.
Dieses grundlegende Gutsein bildet den Hintergrund allen menschlichen Lebens. Mit anderen Worten: Jeder Vorgang, jedes Ereignis ist Teil eines unendlichen Gewebes, selbst wenn uns dessen Sinn verborgen bleibt und unabhängig davon wie wir es moralisch beurteilen.
Das grundlegende Gutsein können wir auch als natürliche Unschuld beschreiben.
Das bedeutet aber nicht, dass all unsere Handlungen gleich wären, da sie letztlich keine Bewertung erhielten. Im Gegenteil: Mit dem „Jüngsten Gericht” der Bibel wird die Selbstbewertung sämtlicher Handlungen unseres Lebens beschrieben, die das Zeugenbewusstsein während des Sterbeprozesses vornimmt. Wir legen gewissermaßen vor unserem höheren (oder auch tieferen) Selbst die Beichte ab. Eine äußere Instanz, die richtet oder bestraft, existiert nicht – es gibt nur die Gnade unserer Vergebung den eigenen Taten gegenüber.

Karl von Eckartshausen (1752-1803) verfaßte 1794 seine Zahlenlehre der Natur, der die Abbildung links entnommen ist. Sie stellt die aus der Sonne fallenden Urzahlen (die zehn Sefiroth) dar, die das Maß aller Dinge sind. Er schreibt dazu:
„Seitwärts ist ein Genius mit einem Kinde; der Genius streckt seinen rechten Arm nach der Sonne aus - ein Emblem der Nothwendigkeit der Annäherung zur Einheit; seine Linke mißt mit einem Zirkel das Herz des Kindes – ein Sinnbild, wie Einfalt und Kraft sich vereinen müßen, um sich zu jener Einheit empor zu schwingen, die die Quelle aller Dinge ist.”
Unser Verständnis dieser Darstellung lautet: die universelle Lebenskraft, hier dargestellt als die Sonne, sendet Licht aus, das sich immer mehr verdichtet, bis es sich in lebendigen Formen manifestiert wie in der Grafik dargestellt. Im Herzen jedes kleinen Kindes ist der Kontakt mit dem ursprünglichen Maß aller Dinge noch vollkommen intakt. Es gibt keine Trennung zwischen der göttlichen Vollkommenheit und dem eigenen Gutsein.
Das Wissen um das grundlegende Gutsein in jedem Menschen sollte den Handlungsrahmen für unseren Alltag darstellen. Es ist der Hintergrund all dessen, was geschieht und wir können erreichen, im Einklang damit zu sein und zu handeln. Erinnern wir uns an unser eigenes grundlegendes Gutsein, so sehen wir es in anderen Menschen mühelos. Nichts wird dringender gebraucht in einer Welt voller Mißtrauen und Haß. Haben wir aber erst das grundlegende Gutsein erkannt, ist dies nichts anderes als die Erkenntnis unserer selbst – Gott, der sich in seiner Schöpfung wiederfindet.
„Denn dem Himmel ist alles offenbar;
und es gibt nichts Verborgenes,
das sich nicht manifestieren wird,
und nichts Verdecktes,
das nicht aufgedeckt werden wird.”
Thomas-Evangelium
-
Heinrich Zimmer: Abenteuer und Fahrten der Seele; München 1977 ↩︎