Es ist paradox: Einen einzelnen Gegenstand können wir nur sehen, weil wir ihn im Raum und durch den Raum wahrnehmen. Gehen wir beispielsweise in ein Zimmer, so müssen wir durch den Raum hindurchsehen, bevor wir irgend etwas darin wahrnehmen können. Der Raum widersteht in keiner Weise unserem ihn durchdringenden Blick. Das ist eine Eigenschaft, die uns einen Hinweis auf Gott liefert, denn Gott leistet in keiner Weise Widerstand gegen irgend etwas oder irgend jemanden.
Wenn wir nun dieses Zimmer verlassen, dann sehen wir, sobald wir zur Tür hinaustreten, enorm viel Raum. Auch wenn wir nachts in den Himmel schauen und die unermesslich fernen Sterne beobachten, ahnen wir etwas von der Unendlichkeit Gottes. Als ein Astronaut nach seiner Rückkehr zur Erde gefragt wurde, ob er im Himmel Gott gesehen hätte, antwortete er: „Ja.” „Und wie sah Gott aus?” „Sie ist sehr schwarz.”
Raum lässt sich auch auf andere Art und Weise beschreiben: Er ist lebendiges, reines Gewahrsein. Dieses lebendige, reine Gewahrsein ist fähig, alles zu durchdringen und zu umgeben, und es kann sich auf geheimnisvolle Weise zu beliebiger Form verdichten. Daher ist alles, was eine Form besitzt – wir selbst eingeschlossen – nichts anderes als eine Verdichtung von Raum, von reinem Gewahrsein. Das ist die Essenz unseres Seins. Wir sind verdichtetes, reines Gewahrsein.
Alle Formen, einschliesslich unserer Körper, werden geboren und sterben. Sie erscheinen und verschwinden wieder. Die Essenz jedoch, das reine Gewahrsein, ist ewig. Unsere Essenz – die Essenz jedes Einzelnen von uns – wurde niemals geboren und wird niemals sterben. Das ist die Wahrheit jedes Lebewesens und jedes Gegenstandes.
Die Gesellschaft, in der wir alle geboren und erzogen wurden, vermittelt die Überzeugung, unser „Ich” sei begrenzt auf unsere „Person” und „Erscheinung”. Wir leben dadurch in einem vollständigen Missverständnis uns selbst gegenüber, welches von unserer Kultur noch unterstützt wird. Daher sollten wir jede Gelegenheit nutzen, uns aus dieser irreführenden Begrenzung zu befreien. Ansonsten bleiben wir Gefangene unserer kulturellen Trance.
Tägliche innere Übung erinnert uns an unser wirkliches Selbst, an die universelle Aufmerksamkeit. Unser Selbst ist reine Aufmerksamkeit ohne jeglichen Inhalt, ohne irgendein Objekt.
Mit den Worten Senecas ausgedrückt:
„Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Übeln, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus; er versetzt uns in jene Ruhe zurück, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden… Der Tod ist weder ein Gut noch ein Übel. Denn nur das kann entweder ein Gut oder ein Übel sein, was überhaupt etwas ist; was aber selbst ein Nichts ist und alles in nichts zurückführt, gibt uns keinem Schicksal preis.” 1
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Seneca, Trostschrift an Marcia, zitiert nach: Welt und Umwelt der Bibel, Nr. 27, Stuttgart 2003 ↩︎