Ein anderes Bild für das Zeugenbewusstsein ist das Meer. Wenn dieGedanken in unserem Geist herumsausen, ist das, als ob ein Wind über das Wasser geht. Die Oberfläche wird unruhig, Wellen entstehen und die Eigenschaft des Meeres, die über ihm befindlichen Dinge zu spiegeln, verschwindet. Die Abbildung auf der rechten Seite stellt dar, wie sich das Leben für die meisten Menschen auf den Wellen an der Wasseroberfläche abspielt. Die Wellen symbolisieren sowohl unsere menschlichen Körper (als Erscheinungen an der Oberfläche des Bewusstseins) als auch die Schwierigkeiten, die uns im Laufe des Lebens begegnen.
Wir identifizieren uns vollkommen mit den Gedanken und Ideen, die der Verstand über sich selbst entworfen hat. So entsteht eine falsche Identität.
Die Gedanken und Ideen erscheinen tatsächlich und bleiben einige Zeit, schliesslich verschwinden sie jedoch – so wie auch irgendwann die Körper sich wieder auflösen, gleich den Wellen an der Oberfläche des Wassers.

Die gestrichelte Linie stellt die Grenze der „konzeptionellen Wirklichkeit” dar. Nur sehr wenige Menschen gelangen vor ihrem Tod bewusst unter diese Linie, tiefer in das Leben hinein. Sie symbolisiert ebenfalls den beständigen Strom unserer Gedanken.
Das gewöhnliche Alltagsbewusstsein ist leider auf den lächerlich kleinen Bereich oberhalb der Linie begrenzt. Tiefer in das Leben einzutauchen würde einfach nur bedeuten, mit dem Denken aufzuhören. Das Ende des Denkens aber versteht das Ego als Tod. Und das ist der Grund, warum unser Ego dieser tieferen Entspannung Widerstand leistet – es will seinen Tod verhindern.
Die in der Grafik angedeutete Tiefe enthält alles Unter- und Unbewusste, unter anderem den „Schatten”, der häufig, wenn er unerforscht bleibt, zu pathologischem Verhalten führt.
Der Grund des Ozeans schliesslich symbolisiert den „Grund des Seins”, der in unserer Kultur traditionell „Gott” genannt wird. Er ist die Quelle des Lebens mit all seinen Formen, welche unablässig in der Sichtbarkeit erscheinen und wieder in die Unsichtbarkeit zurücksinken.
Die Übung des Zeugenbewusstseins ermöglicht uns, den Glauben an eine persönliche Identität auf den Wellen des Lebens aufzugeben und zu erkennen, dass wir selbst der ganze Ozean sind.
Gelingt es allmählich, die Gedanken zur Ruhe zu bringen, dann beruhigt sich die Oberfläche. Und sie spiegelt Sonne und Wolken, sie spiegelt die über dem Wasser fliegenden Vögel, ohne danach zu greifen und die Bilder festzuhalten. Anders gesagt: Je mehr wir unserem rationalen Denken erlauben, sich vollständig zu entspannen, desto mehr sinken wir in die Sicherheit und Geborgenheit der Seele hinein. Die oben abgebildete Lithographie von Käthe Kollwitz, im Jahre 1942 als eines ihrer letzten Bilder entstanden, kann man als Darstellung der „Mutter Seele” deuten, die ihren inneren Kindern diese Sicherheit gewährt.
Zwei einfache Fragen können Ihnen helfen, das Gewahrsein des Zeugenbewusstseins (oder: Gewahrsein des Gewahrseins) über den Tag aufrechtzuerhalten:
1. Fragen Sie sich im Laufe des Tages von Zeit zu Zeit: „Bin ich jetzt gerade bewusst?"
Diese Frage allein ist ausreichend, um uns in diesem Moment präsenter zu machen – der ja letztendlich der einzige Moment ist, den es gibt. Deshalb ist die Frage „Bin ich jetzt gerade bewusst?" schon ausreichend – es bedarf keiner Antwort in Form von Gedanken oder Worten. Genau in dem Moment, in dem uns offensichtlich wird, dass wir bewusst sind, sind wir es.
2. Wenn es Ihnen wirksamer erscheint, können Sie auch mit einer direkteren Frage arbeiten: „Woher weiss ich, dass ich bewusst bin?"
Diese Frage bringt ebenfalls die Antwort aus sich selbst hervor. Es gibt nur eine Möglichkeit zu wissen, ob wir bewusst sind: indem wir uns öffnen für das Zeugenbewusstsein, um den gegenwärtigen Moment so gedanken- und urteilsfrei wie möglich zu empfangen. Da das Zeugenbewusstsein fast immer von Gedanken und Worten verhangen ist, sollte auch hier kein Versuch unternommen werden, mit Worten oder Konzepten zu einer Antwort zu kommen. Durch Übung können wir uns des Zeugenbewusstseins so stabil gegenwärtig werden, dass es nicht mehr durch Worte oder Gedanken beeinflußt wird.
Die bewusste Verwendung des Zeugenbewusstseins bewirkt mit der Zeit, dass sich die Wahrnehmung der Gegenwart verwandelt. Normalerweise erleben wir den gegenwärtigen Moment, als wäre er zwischen dem Nachdenken über Richtig und Falsch vergangener Angelegenheiten einerseits und den Sorgen und Hoffnungen bezüglich der Zukunft andererseits eingezwängt. Je stärker die Präsenz im Augenblick, je achtsamer und vollständiger unsere Selbstwahrnehmung wird, desto weniger Bedeutung haben Vergangenheit und Zukunft. Mit fortgesetzter Übung, die immer auch zur Auflösung emotionaler Verstrickungen in frühere und spätere Vorkommnisse führt, expandiert die Gegenwart immer weiter.
Diese Grafik stellt dar, wie sich das Verständnis unserer selbst in dem Maße ausdehnt, in dem wir unsere Gedanken wegfallen lassen. Bei der täglichen Übung des Zeugenbewusstseins bemerken wir möglicherweise, dass die Zeit langsamer wird, während unser Gewahrsein immer umfassender wird. So dehnt sich der gegenwärtige Moment immer weiter aus, bis sowohl Vergangenheit als auch Zukunft im Jetzt aufgelöst werden. In diesem Moment wird die Zeit zur Ewigkeit – zum kosmischen Bewusstsein.
Wie alt ist Ihr Gewahrsein?
Schauen Sie „in” Ihr Gewahrsein-- unabhängig davon, wie alt Ihr Körper jetzt ist – und untersuchen Sie es, ohne sich mit dem Körper zu identifizieren. Wenn Sie Ihr Gewahrsein wahrnehmen, werden Sie entdecken, dass es so alt ist, wie Sie waren, als Sie es zum ersten Mal bemerkt haben. In Wirklichkeit altert unser Gewahrsein nicht, es ist ewig. Bewusstsein kann nicht durch Zeit begrenzt oder gemessen werden, denn es war vor allem anderen da…
Menschliche Körper sind in der Tat dem Alterungsprozess unterworfen; wenn wir uns jedoch mit dem Gewahrsein selbst identifizieren, bleiben wir alterslos! Der „Jungbrunnen” ist also wirklich gut versteckt, wenn auch nicht fernab in einem fremden Land. Er ist die innerste Essenz jedes einzelnen Menschen.