Es ist ein guter Tag zum Sterben

Menschen versuchen zu vermeiden, was ihnen Angst macht. Und was könnte furchteinflößender sein als der Tod?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht schwierig: Furchteinflößender als der Tod ist es, zu sterben, ohne in die Tiefe des gegenwärtigen Augenblicks geschaut zu haben. Wir alle leben in diesem Moment in etwas, das wir den Prozess des Lebens nennen könnten. Aber wir könnten ebensogut sagen, dass wir uns in diesem Moment im Prozess des Sterbens befinden. Denn in diesem Augenblick sterben Tausende von Körperzellen jedes lebenden Menschen. Sollten wir über diesen stetigen Tod der Körperzellen in tiefe Trauer verfallen? Natürlich nicht. Haben wir das Gefühl, etwas sehr wichtiges zu verlieren, wenn wir unsere Fingernägel schneiden? Natürlich nicht. Beginnt unsere Familie zu weinen, wenn wir uns die Haare schneiden? Nein…

Wir sind viel mehr als diese Körperzellen, und genau darum geht es hier. Wir sind viel mehr als Fingernägel oder Haare. Wir sind mehr als alles, was wir sehen können, einschliesslich unserer Körper. Wir sind das Leben selbst, das sich seiner selbst gewahr wird, indem es diese komplizierte Illusion erschafft, in der scheinbar voneinander getrennte Wesen in endloser Folge erscheinen und wieder verschwinden.

Von 1757-1827 lebte in England der Kupferstecher, Maler und Dichter William Blake. Dem ungewöhnlichen und vor allem im deutschsprachigen Raum völlig unbekannten Künstler wurde mit Jim Jarmuschs Film Dead Man ein großes Denkmal gesetzt. Im Film hält ein Indianer den Buchhalter William Blake für eben diesen Visionär aus London. Begeistert davon, den ekstatischen Maler selbst kennenzulernen, beschliesst er, dessen Beschützer im Wilden Westen zu werden.

Jarmusch stellt dar, was Blake in seinem Leben tatsächlich widerfuhr. Er führte aufgrund seiner Nahtoderlebnisse und tiefer spiritueller Visionen ein unangepaßtes, vielfach unverstandenes Leben und blieb bis zu seinem Tod arm, ohne nennenswerte Anerkennung für seine inspirierten Arbeiten. Schließlich war es ein Indianer, Angehöriger einer untergehenden, ekstatisch lebenden Kultur am anderen Ende der Welt, der die Tiefe der Einsichten erkannte, welche Blake in seinen Werken darstellte.

Blake illustrierte alle seine Schriften selbst. Diese Zeichnung, die er seinem Bekannten William Upcott ins Album schrieb, trägt die Widmung:1

„William Blake, einer, der sich sehr an guter Gesellschaft erfreut. Geboren am 28. November 1757 und seitdem mehrere Male gestorben.”

Blake schrieb anläßlich des frühen Todes eines befreundeten Künstlers an dessen Vater einen Kondolenzbrief mit folgenden Worten:

„Ich weiss, dass verstorbene Freunde wirklicher bei uns sind als zu der Zeit, da sie unserem sterblichen Teil sichtbar waren. Vor dreizehn Jahren verlor ich einen Bruder, und unterrede mich täglich und stündlich mit seinem Geist im Geiste und sehe ihn in meiner Erinnerung in den Gefilden meiner Imagination. Ich höre seinen Ratschlag und schreibe selbst jetzt nach seinem Diktat. Vergeben Sie mir, wenn ich meinen Enthusiasmus bekenne, von dem ich möchte, dass alle daran teilhätten, da er mir eine Quelle unsterblicher Freude ist, selbst in dieser Welt.”

Die Eintragung in Upcotts Album, der das obige Bild entnommen ist, schliesst mit einem Zitat Michelangelos:

„Die himmelgeborene Seele muss himmelwärts streben.”

Und an anderer Stelle schreibt er:

„Jeder Tod ist eine Vervollkommnung des Sterbenden.”

Sein Beschützer, der Indianer, würde ihm recht geben, stammt doch aus indianischem Mund der berühmte Ausspruch:

„Es ist ein guter Tag zum Sterben.”

Für die Lakota-Indianer war der Tod kein Geheimnis, das man bei seinem Kommen lösen oder über das man sich Sorgen machen müßte; ihre Haltung war vielmehr, dass man ihn jederzeit willkommen heißen sollte. Dieser Glaube fand Ausdruck in diesem vielzitierten Satz.

Theodor Fontane hat der Auseinandersetzung mit dem Tod einen anderen Ausdruck verliehen. Das Gedicht von Herrn Ribbeck zeichnet das Bild eines Menschen, der im Frieden mit sich und der Welt lebt. Darüber hinaus ahnt er seinen Tod voraus und trägt Sorge dafür, dass die Segnungen, die von ihm ausgingen, weit über seinen Tod hinaus zur Verfügung stehen.


  1. Die Zitate stammen aus der umfassenden Biographie von Peter Ackroyd: William Blake – Dichter, Maler, Visionär; München 2001 ↩︎