„Jesus sprach:
,Wer das ganze All kennt
und kennt sich Selbst nicht,
der kennt das All nicht.’”
Thomas-Evangelium
Wir sind eine Gesellschaft der linkshirnigen Menschen. Im Umgang mit der Welt bedienen wir uns in erster Linie der linken Gehirnhälfte, welche – vereinfacht gesprochen – für die Steuerung der rechten Körperseite zuständig ist. Der linken Gehirnhälfte sind rationales Denken, Sprechen, Lesen, Rechnen, Logik, Abschätzen von Zeit und Detailerinnerung zugeordnet. Die rechte Gehirnhälfte, die wir gewöhnlich aufgrund unserer Erziehung und unseres Umfeldes stark vernachlässigen, bildet den Ursprungsort von Ideen, Raumgefühl, Inspirationen, Träumen, Musik und Gefühlen. Sie empfindet zeitlos und unbegrenzt und spricht ihre eigene Sprache: die Sprache der Seele.
Wir haben einige Axiome über die Seele zusammengestellt. Für die Betrachtung dieser grundlegenden Aussagen möchten wir betonen, dass ihre persönliche, kontemplative Überprüfung von größerer Bedeutung ist als ihr theoretisches Verständnis. Die folgenden Aussagen sind als Herausforderung gedacht, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
- Die Seele (das grundlegende Gutsein, die grundlegende Unschuld) ist der zentrale und wichtigste Teil des Menschen.
- Eine Seele entsteht und entwickelt sich, stirbt jedoch niemals.
- Die menschliche Seele ist sehr biegsam, ausserordentlich verletzlich und für jede Art von Eindrücken empfänglich.
- Die Seele kann sich positiv oder negativ entwickeln – entsprechend den Erfahrungen und dem Lebensstil eines Individuums.
- Die nicht verwundete Seele ist der anziehendste und schönste Aspekt menschlicher Wesen.
- Die Eigenschaften der Seele sind weiblich – bei Frauen wie bei Männern.
Es ist das Werk der Frauen, die Seele in unserer äußerst seelenfeindlichen Welt zu verkörpern. Die besondere Aufgabe der Männer ist es, zu einer tiefen Einsicht in ihre Seele zu gelangen und im Einklang mit dieser Einsicht zu leben. Und eine Frau wird es leichter haben, sich in das Weibliche zu entspannen, wenn sie sich in Gegenwart eines Mannes aufhält, der einen guten Kontakt zu seiner Seele etabliert hat. Das Vertrautwerden mit der Seele wird beispielsweise durch die Entwicklung genauer Körperwahrnehmung, Vorstellungskraft, Intuition und visionärer Schau gefördert.
Die Vorbereitung auf den Tod besteht darin, dass die Seele von ihrer Zersplitterung in zahllose, scheinbar voneinander unabhängige Teile grundlegend geheilt wird. Ein Mensch, der diese Zersplitterung überwunden hat, empfindet keinerlei innere Spannung mehr zwischen in ihm widerstreitenden Positionen, er besitzt Integrität.
Die Seele ist jedoch kein fest begrenzter Gegenstand, der sich analysieren und definieren lässt. Die Gebrüder Grimm, in erster Linie bekannt durch ihre Hausmärchensammlung, waren im Hauptberuf exzellente Sprachwissenschaftler. In ihrem Wörterbuch der deutschen Sprache findet sich unter dem Stichwort Seele eine umfangreiche Sammlung von Zitaten, in denen die Seele näherungsweise beschrieben wird. Hier eine kleine Auswahl:1
„Gott hat unsern Seelen einen Hunger nach Erkenntnis,
ein Verlangen zu wissen … gegeben.”
„Die Theorie der wahren Religion ist … jedem Menschenkinde angemessen und seiner Seele eingewebt.”
„Leider sind Träume und Krankheiten die besten Data von der Energie unserer Seele.”
„Du, der du das Innere siehst, sieh der Seelen Regung an,
die sie selber zwar empfinden, aber nicht beschreiben kann.”
„Gleichwohl aber ist die Seele niemals reger und aufgeweckter, als wenn sie dem Sterben … am Nächsten ist … ja wenn auch jemals im Leben ein Epikureer an Unsterblichkeit der Seelen gezweifelt hat, wird seine Seele wie ein Maulwurf beim Sterben sehend.”
„Empfindung, bist du wahr, als dürft’ ich
frei mit dem Schöpfer der Seele reden?”
-
Jacob und Wilhelm Grimm: Wörterbuch der deutschen Sprache, Onlineausgabe unter https://woerterbuchnetz.de - Stichwort „Seele”. Die Zitate sind ohne Verfasserangabe aufgeführt, da im Wörterbuch nur Nachnamen belegt sind, die nicht zur Identifikation ausreichen. ↩︎