Viele Menschen streben nach einem Geisteszustand, den wir hier heitere Gelassenheit nennen wollen. Er ist das Ergebnis eines leidenschaftlich, umfassend mitfühlend gelebten Lebens. Wir können jedoch unser Leben nicht leidenschaftlich leben, solange wir am Sammeln von Dingen, Konzepten oder Vorstellungen festhalten.
Heitere Gelassenheit entwickelt sich erst dann, wenn der denkende Geistes von den Ideen des „Ich”, „mein” und „mir” abgezogen wird. In dem Maße, wie die Identifikation mit der eigenen Person (vom griechischen persona = Maske) nachlässt, nehmen wir die Stürme des Lebens mit wachsendem Gleichmut wahr. Wir erkennen sie als Ausdruck der vielfältigen Möglichkeiten des schöpferischen Geistes. Der Prozess der Entleerung des Geistes bis zum Tod des Ich-Gedankens führt dazu, dass wir unserer Umgebung jederzeit vorbehaltlos zustimmen und sie segnen können. Elisabeth Kübler-Ross schreibt dazu:
„Daher ist die Bedeutung des Todes: Die letzte Stufe der Reife. Alles was du getan hast und gewesen bist, konvergiert in deinem Tod. Wenn du stirbst und wenn du das Glück hast, vorher davor gewarnt zu werden, dann bekommst du deine letzte Chance zur Reife, das heißt wahrhaft jener zu werden, der du wirklich bist, in noch umfassenderer Weise Mensch zu werden.” 1
Allerdings ist der Ich-Gedanke tief in Körper und Geist verankert. Die gesellschaftliche und kulturelle Trance, in der wir uns befinden, erschwert seine Auflösung zusätzlich, denn die Trance suggeriert, dass nur ein starkes und durchsetzungsfähiges Ich im Leben bestehen kann. Insbesondere die christliche Kultur hat das Bild eines Menschen entworfen, der sich mit Natur und Umwelt in einem permanenten Überlebenskampf befindet. Bei der Vertreibung aus dem Paradies wurden Adam und Eva von Gott verflucht:
„Zum Weibe sprach er: ‚Vermehren will ich deine Mühsal bei deiner Schwangerschaft. In Mühen sollst du Kinder gebären…’”
„Und zu Adam sprach er: ‚…so ruht der Fluch deinetwegen auf dem Acker… Dir soll er Dorn und Distel tragen, und doch musst du das Kraut des Feldes essen.’”
Aber die Bibel liefert gleichzeitig auch einen Hinweis auf die Ursache und damit letztlich auf die Lösung:
„Dann sprach Gott der Herr: ‚Ja, der Mensch ist jetzt wie unsereiner im Erkennen von Gutem und Bösem. Dass er nicht seine Hand ausstrecke und gar vom Lebensbaume esse und ewig lebe!’” 2
Die Hauptfunktion des Ichs besteht im Urteilen über gut und böse, richtig und falsch, angenehm und unangenehm. Fortwährend sortiert es die Welt der Erfahrungen in zwei Gruppen: Zustände, die festgehalten werden sollen, weil sie positiv bewertet werden, und Zustände, die abzuwehren sind, weil sie negativ bewertet werden. Diese Kategorisierung von Ereignisse oder Wahrnehmungen geschieht bereits auf der unterbewussten Ebene so schnell, dass wir häufig erst am Ergebnis feststellen können, dass sie stattgefunden hat. Am Ende stehen positive oder negative Gefühle und Gedanken, die bereits eine Reaktion auf den ursprünglichen Reiz und dessen Bewertung sind. Erforscht man also nur seine Gefühle und Gedanken, bleibt man auf halber Strecke in den Seilen des Ich-Gedankens gefangen.
Wer jedoch weiter gehen und seine Hand nach den Früchten des Lebensbaumes ausstrecken will, wird tatsächlich Gut und Böse erkennen – und zwar in den Reaktionen seines Geist-Körper-Systems auf die pausenlos auf ihn einströmenden Eindrücke aus seiner Umgebung. Hier liegt das Eintrittstor zum ewigen Leben. Zuerst wird Bewusstheit über die Urteilsfunktion des eigenen Geistes erlangt. Darauf folgt die Befreiung des Selbst, indem die Identifikation mit den Urteilen schrittweise aufgelöst wird. Und so erhalten wir einen Hinweis auf das, was Gott genannt, traditionell aber personifiziert dargestellt wurde: Vollkommene und urteilsfreie Aufmerksamkeit.
Mit einem Körper identifiziert zu sein, bedeutet unbewusst zu leben und das Göttliche zu ignorieren. Die Identifikation mit unserem Körper bringt uns zwar eine gewisse Sicherheit, aber sie ist ein Rückzug. Und da diese Sicherheit nicht dauerhaft ist, können wir die stets gegenwärtige vollkommene Freiheit nicht wahrnehmen. Aus dem Gedanken „Ich bin dieser Körper” entsteht der Gedanke „Ich denke, also bin ich”. Dieser wiederum bringt eine „Ego-Wichtigkeit” hervor, die immer „recht haben” will.
Wir wissen, dass unser Körper eines Tages sterben und verrotten wird. Durch dieses Wissen entsteht eine unbewusste Unsicherheit, die wir durch eine ununterbrochene Kette von Gedanken von uns fernzuhalten versuchen. Dieser Gedankenstrom fesselt uns an eine konzeptionelle Realität, beispielsweise an den Glauben an eine lineare Zeit.
In unserer Kultur ist die Aufgabe, die Identifikation mit dem Körper zu beenden, vermutlich für die meisten Menschen nicht erfüllbar. Sie erfordert eine fortgesetzte Übung des Loslassens von Vergangenheit, ein Sterben und Geborenwerden in jedem Augenblick. Wer aber „in jedem Moment stirbt”, gibt jeglichen Widerstand gegen den gegenwärtigen Augenblick auf, was zu vollkommener Offenheit führt. Das ist mit der biblischen Aufforderung gemeint, wir sollten werden „wie die Kinder”. Die erforderliche Übung besteht darin, sich des inneren Beobachters gewahr zu werden, der ohne Urteil und Gedanken den gegenwärtigen Moment bezeugt. Diese Übung wird die kurzen Pausen zwischen den einzelnen Gedanken verlängern, so dass wir mit der Zeit den Glauben daran, dass wir dieser Körper sind, gehenlassen und aus der linearen Zeit in das Nichts treten können.