Mitgefühl und Weisheit

Im buddhistischen Verständnis wird ein wahrhaft menschliches Leben von zwei Säulen getragen: von Mitgefühl und Weisheit.

Mitgefühl bedeutet die zur Reife gebrachte Fähigkeit, in der Zeugenschaft der innersten Essenz von Allem zu ruhen und das grundlegende Gutsein (Bodhichitta)1 als Essenz aller menschlichen Wesen, einschliesslich uns selbst, anzuerkennen.

Die Anerkennung des grundlegenden Gutseins in jedem Menschen setzt voraus, dass wir lernen, jede Erfahrung und alles, was geschieht, in einer permanenten Praxis der Präsenz und Achtsamkeit zu bezeugen. Im Buddhismus wird dies als das große Spiegelbewusstsein des weisen Mitgefühls bezeichnet.

Weisheit beschreibt unsere vollkommen gereifte Fähigkeit, das Zeugenbewusstsein aufrechtzuerhalten, während wir in Beziehung mit der Welt sind. Dies gilt für Beziehungen mit anderen Menschen, aber auch für unsere eigenen potentiellen Erfahrungen, seien sie positiv oder negativ.

Dies setzt voraus, dass wir lernen, in der Einfachheit des Zeugenbewusstseins zu verbleiben, ohne uns mit jemandem oder etwas zu identifizieren. Die Übung des Zeugenbewusstseins im täglichen Leben führt uns zur Entwicklung reifen Mitgefühls.

Mitgefühl ist vollkommen bewusste Wahrnehmung des grundlegenden Gutseins in allem.

Weisheit ist andauerndes Zeugenbewusstsein im alltäglichen Leben.

Die Praxis der Verwirklichung von Mitgefühl und Weisheit wird im Buddhismus als das paradoxe Leben des barfüßigen Bodhisattva bezeichnet.2 In der Sprache der Tradition gibt sich ein Wesen, das ein paradoxes Leben im Spiegel- oder Zeugenbewusstsein führt, der Aufgabe hin, allen lebenden Wesen zur Erleuchtung zu verhelfen. Mit Erleuchtung ist die vollkommene, endgültige Befreiung von jeder nur möglichen Identifikation mit einem Gedanken oder einer Form gemeint.


  1. Bodhi = unsere erleuchtete Essenz, Chitta = intuitives Wissen, Bodhicitta bedeutet also „Bewusstheit über unsere erleuchtete Essenz”. ↩︎

  2. Bodhisattva, Sanskrit für „Erleuchtungswesen" ↩︎