Der Göttin begegnen

Die Schöpfungsgeschichte der Bibel beginnt mit den Worten:

„Und die Erde war wüst und leer,
und es war finster auf der Tiefe;
und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.”

1. Buch Mose

Der über der leeren Erde schwebende Geist Gottes ist eine Metapher für die Bewusstheit, das reine Gewahrsein, das frei von Objekten ist. Es entspricht der großen statischen und formlosen Kraft, die im Sanskrit Shiva genannt wird.

In Indien wird Gott traditionell als Verbindung aus Männlichem und Weiblichem gesehen. Es gibt zahlreiche Abbildungen und Figuren, welche Shiva (den männlichen Pol) und Shakti (den weiblichen Pol) als ein Wesen darstellen; dies weist darauf hin, dass beide Pole denselben Ursprung besitzen. Westliche Religionen schreiben Gott vorwiegend männliche Eigenschaften zu, während in Mittel- und Ostasien die Erforschung und Verehrung des weiblichen Aspektes Gottes eine lange Tradition hat und sehr hoch entwickelt ist. Aus ihr ist eine umfangreiche Praxis hervorgegangen, bei welcher Gott in Form der Mutter verehrt wird.

Auch in der christlichen Tradition wird die Anbetung der Muttergottheit in Form der Marienverehrung gepflegt. Die mitteleuropäische Tradition geht allerdings nicht so weit wie etwa die hinduistische oder die der Marienverehrung in Süd- und Mittelamerika. Letztere verehren Maria/Shakti als die höchste Kraft. Sie erschafft das Universum, erhält es und nimmt es wieder zurück.

Die in vielen Kulturen als männlicher Pol beschriebene Bewusstheit befindet sich in vollkommener Ruhe. Sie ist göttliche Vollkommenheit; Ken Wilber nennt sie „den einen Geschmack”. Die ursprüngliche Bewusstheit hat den Wunsch, sich selbst kennenzulernen, und dies führt zu Ausstrahlungen (Emanationen) von Bewusstsein. Diese werden in der Regel als weiblich empfunden, da sie die schöpferische Kraft besitzen, Erscheinungen, Bilder, Lebewesen und Dinge hervorzubringen.

Dass wir überhaupt über Gott nachdenken können, verdanken wir demzufolge dem weiblichen Aspekt Gottes. Diese weibliche Qualität ist der Grund für die Tatsache, dass wir existieren. Die Strahlung des Bewusstseins mündet in der dynamischen Kraft, die als Mutter oder Mutter Natur erscheint und uns in allen Frauen begegnet, ja in allen Formen schlechthin.

Einer der bedeutendsten Namen, den die westliche Welt dieser Kraft gegeben hat, ist Anima. Doch die göttlichen, alles erfüllenden Qualitäten der Anima wurden bisher nicht ausreichend beachtet. Daraus resultiert der Zustand unserer Gesellschaft, an dem die meisten Menschen leiden. Die Rede ist von einer einseitig rational und auf Effizienz ausgerichteten Seinsweise, in der kein Raum für das ist, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Muße ausmacht: Freie Zeit, ein Entfaltungsraum für Innenschau, Inspiration, Verbundenheit und Ekstase.

Die Abbildung unten links zeigt eine Vision der Hildegard von Bingen. Sie stellt den Menschen im Energiefeld der Erde dar; dieses erscheint innerhalb der umfassenden Seele. Diese ist als Frau dargestellt. Oberhalb ihres Kopfes befindet sich ein Männerkopf als Darstellung der alles bezeugenden Bewusstheit. Der als Mann dargestellte heilige Geist strahlt sich selbst mittels der weiblichen Weltseele (anima mundi) in den Kosmos der Formen aus.

Auf der Ebene reinen Gewahrseins existiert keine Dualität und daher auch keine Polarität. Die Aussendung der Bewusstseinsstrahlung ist der Eintritt in die Polarität. Das ist der Ursprung der Schöpfung. Sobald wir uns mit der Welt der Erscheinungen beschäftigen, ob grobe oder subtile, tanzen Shiva und Shakti ihren Tanz. Die ganze Welt, das ganze Universum ist durchdrungen von der großen Göttin, dem schöpferischen Pol des ursprünglichen Gewahrseins. Würde eine hinreichende Anzahl von Menschen die Göttin als die Schöpferin aller Dinge anerkennen, dann könnte die notwendige soziale Transformation stattfinden.

In seinem Buch Die weisse Göttin schreibt Robert Graves von der Notwendigkeit, dass wir unsere Achtsamkeit für die Göttin, die „Seele der Welt”, wiederbeleben:

„Nur nach einer Zeit vollständiger politischer und religiöser Verwirrung kann der unterdrückte Wunsch der westlichen Menschen nach einer anwendbaren Form der Göttin-Verehrung befriedigt werden. Mit ihrer Liebe, die über mütterliche Güte hinausgeht, und einem Jenseits, das niemals erschöpft ist, wird sie uns schliesslich entzücken. »Aber wie sollten wir sie verehren?« Sie muss in ihrem altherkömmlichen fünffachen Wesen verehrt werden: Geburt, Initiation, Vervollkommnung, Gelassenheit und Tod. Aber je weiter ihre Stunde hinausgeschoben wird, und je mehr ihre natürlichen Ressourcen von Erde und Wasser durch die irreligiöse menschliche Sorglosigkeit erschöpft werden, um so weniger gnädig wird ihre fünffache Maske erscheinen, und um so geringer wird der Spielraum sein, den sie uns lässt.” 1


  1. Robert von Ranke-Graves: Die weisse Göttin – Sprache des Mythos, 6. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 1999 ↩︎

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