Als der Dalai Lama in einem überfüllten kleinen Raum in New York seine erste Pressekonferenz in den USA gab, hörte man von weiter hinten im Saal eine Stimme: „Eure Heiligkeit, haben Sie eine Botschaft für die Vereinigten Staaten?” Seine Heiligkeit, der XIV. Dalai Lama, lächelte freundlich und antwortete sanft: „Mitgefühl.”
Vor mehr als 2000 Jahren ereignete sich im Bewusstsein der Völker des Nahen und Mittleren Ostens eine sehr bemerkenswerte psychologische Veränderung. Ein Archetyp entwickelte sich, dessen spezielle Qualitäten weder in der Zeit davor noch in der Folgezeit sichtbar waren. Seine Qualitäten sind unendliches Mitgefühl und größte Barmherzigkeit.
Bis heute ist dies die vollkommenste archetypische Energie, welche bisher in der Entwicklung menschlichen Bewusstseins entstanden ist. Auch wenn versucht wird, die Figur des Jesus als lediglich historische Personzu deuten, hat sie vor allem auf der archetypischen Ebene eine zentrale Bedeutung für unsere heutige Auffassung von Nächstenliebe.
Im Sanskrit erhielt dieser Archetyp den Namen Buddha. Dieser wurde in den ersten Jahrhunderten seines Erscheinens ausschliesslich als männlich angesehen und verehrt. Buddha bedeutet „erwachter Mensch”. Wie bei Jesus ist eine historische Figur überliefert, aber auch hier existieren keine Aufzeichnungen des Lehrers selbst. Erst die Schüler der Meister und Autoren späterer Generationen unternahmen es, die Lehre niederzuschreiben, wobei sich historische Fakten mit Interpretationen mischten. In beiden Kulturen entstand auf diese Weise ein Mythos von der Nächstenliebe als derjenigen Kraft, die das Leiden des Menschen in der Welt überwinden kann.
Ein Mythos ist ein Identifikationsmodell, welches Orientierung und Sinn in das menschliche Leben bringt. Er dient dem Menschen auf seiner Reise durch das irdische Leben als Anleitung zur Transformation. In Europa wurde der Versuch unternommen, die Lebensgeschichte Jesu historisch festzuschreiben. Daraus entstand ein Glaube, der sich hauptsächlich an der Interpretation der Bibel orientiert. Die Auslegung des Glaubens obliegt der Priesterschaft. Die Lehre des Mitgefühls wurde so zu einer von außen verordneten Pflicht, anstatt zu einem in Selbsterforschung erworbenem Wissen.
Die Entwicklung des Buddhismus verlief anders. Hier ist es die direkte Weitergabe von Erfahrungswissen, welche auf dem Weg der Befreiung vom irdischen Leid die größte Rolle spielt. Damit findet bis heute die eigentliche Übertragung buddhistischer Weisheit im direkten Kontakt zwischen Schüler und Lehrer statt.
Der praktizierende Buddhist erreicht die Verwirklichung der ihm innewohnenden Buddhanatur, indem er den Weg des Bodhisattva geht.1 Diese Bezeichnung (Sanskrit für „Erleuchtungswesen”) galt ursprünglich Siddhartha Gautama, dem historischen Buddha, in der Zeit vor seiner Erleuchtung, einschliesslich seiner vorhergehenden Inkarnationen. Später wurde damit jeder Mensch bezeichnet, der sich der lebenslangen Aufgabe verpflichtete, vollkommene Achtsamkeit für sich selbst und für die Gesellschaft zu verwirklichen. Ein Bodhisattva ist ein Mensch, der zum Wohle aller fühlenden Wesen handelt. Er orientiert sich an den folgenden vier Gelöbnissen (freie Übersetzung):
Zahllos sind die Lebewesen;
ich gelobe, sie alle zu erkennen.
Unerschöpflich ist das Greifen des Geistes;
ich gelobe, es gänzlich zu überwinden.
Unzählig sind die Tore der Wahrheit;
ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Unübertroffen ist der Weg des Zeugenbewusstseins;
ich gelobe, ihn zu gehen.
Einige hundert Jahre, nachdem der Buddhismus in Indien entstand, wanderte die Verehrung des Bodhisattva-Archetyps allmählich über Tibet und Nepal nach China und später auch nach Japan. Im Verlauf dieser Wanderung änderte er seine Erscheinung und wurde fortan weiblich dargestellt.
Der tibetischen Tara entspricht die in China verehrte Kuan-Yin. Sie gilt ebenfalls als Erscheinung des Bodhisattva des Mitgefühls und wird im Westen auch als Göttin der Gnade bezeichnet.
Die japanische Version der Göttin ist Kwannon-Sama. Sie wird mit einem Weidenzweig in der linken Hand dargestellt; dies symbolisiert ihre Fähigkeit, körperliche und psychische Leiden zu heilen. In der Rechten hält sie ein Gefäß mit Soma, dem Nektar der Unsterblichkeit. Sie ist immer barfüßig, weil nichts ihren Kontakt mit der heilenden Erde unterbrechen soll. Ihr Körper ist in lange, fließende und anmutige Gewänder gehüllt – bisweilen trägt sie aber auch einen Schnurrbart, um ihre Einheit mit dem Männlichen zu zeigen. Auch hier begegnet uns die ursprüngliche Polarität des Göttlichen wieder. Kwannon-Sama ist ein Symbol für ein irdisches Leben, das dem aktiven Mitgefühl gewidmet ist.
Mitgefühl ist die Kraft der Erlösung. Wenn wir beginnen, es zuerforschen, haben wir oft ein Bild von ihm, als ob es ausserhalb unserer selbst existierte. Die Botschaft, die in jeder Darstellung des Bodhisattva, ob männlich oder weiblich, kommuniziert wird, lautet jedoch: Unsere Aufmerksamkeit soll so lange auf Hingabe ausgerichtet werden, bis alles – der Tod eingeschlossen – sich in Liebe und Gott auflöst.
Als eine der wichtigsten Segnungen, welche der Bodhisattva-Archetyp auf uns übertragen kann, könnte sich inmitten von Schrecken und Terror die „Gabe der Furchtlosigkeit” erweisen. Damit wird er für unsere Zeit zu einem äußerst geeigneten Archetyp. Furchtlosigkeit bedeutet, selbst angesichts der Erfahrung von Angst und Negativität in der Einfachheit des Zeugenbewusstseins zu verweilen, ohne ein Urteil zu fällen.
Für die Entwicklung dieser Qualität ist es notwendig, einen meditativen Geist zu entwickeln. Das bedeutet nicht unbedingt, sein Leben zurückgezogen auf dem Meditationskissen zu verbringen. In erster Linie geht es darum, eine innere Haltung zu kultivieren; wir nennen sie den weiblichen Weg.
Gerade für Männer ist es notwendig, sich mit diesem weiblichen Weg zubefassen, denn es gehört zu ihren Aufgaben, sichere Räume für Frauen und Kinder zu schaffen. Auf der ganzen Welt ist ein rücksichtsloser Prozess im Gang, der diese Schutzräume von Sanftheit, Stille, Langsamkeit, Gelassenheit und Achtsamkeit stetig zurückdrängt.
Maitreyi D. Piontek, Meditationslehrerin aus der Schweiz, gibt in ihremBuch Die weiblichen Juwele folgende Empfehlungen:
„Der Weg der Meditation entspricht dem weiblichen Weg.
Meditation ist weder eine Aktivität, noch eine Technik.
Ebensowenig bedeutet Meditation Entrückung
oder einen Zustand des Abgehobenseins.
Meditation kann nicht gemacht,
sondern nur zugelassen werden.
Meditation ist ein tiefer Seinszustand,
eine bewusste Verbundenheit mit dem größeren Ganzen.
Meditation entsteht aus der Bereitschaft,
der Wirklichkeit zu begegnen.
Meditation bringt Heilung.
Meditation geschieht aus dem Nichts
und wird genährt durch Leere und Stille.
Meditation entspricht dem weiblichen Potential.”

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Das Bodhisattva-Ideal spielt vor allem im Mahayana-Buddhismus eine übergeordnete Rolle, der in Nordindien, Nepal, Tibet, China und Japan zu finden ist. Der Theravada-Buddhismus, der in Südindien und Südostasien zuhause ist, hebt die direkte individuelle Befreiung vom Rad der Wiedergeburt hervor. ↩︎